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Oberhavels Landrat Alexander Tönnies zur Unterbringung Geflüchteter: „Die Stimmung kippt“

Beim Unterbringen Geflüchteter kommt Oberhavel zunehmend an seine Grenzen. Zu den aktuellen Plänen im Landkreis und in Zehdenick sowie zur Zuwanderung allgemein sprach MAZ-Redakteur Helge Treichel mit Landrat Alexander Tönnies (SPD).

Alexander Tönnies ist seit 27.04.2022 Landrat des Landkreises Oberhavel.

© Karsten Schirmer


Landauf, landab schlagen die Verwaltungschefs Alarm hinsichtlich der Unterbringung weiterer Geflüchteter. Die MAZ sprach mit Landrat Alexander Tönnies (SPD) über die Situation in Oberhavel – und über Grenzen.

Die Plätze in Notunterkünften werden laut Medienberichten in ganz Deutschland knapp. Wie ist die Lage in Oberhavel?

Alexander Tönnies: Wir haben in Oberhavel knapp 2130 Plätze für die Unterbringung von Geflüchteten. Davon sind 170 noch bedingt frei. Das heißt: Wir achten darauf, dass möglichst Nationalitäten und Familien gemeinsam untergebracht werden können. Wirklich frei sind also noch 30 Plätze. Der Landkreis hat im vergangenen Jahr 3000 Menschen aufgenommen. Darunter sind viele Ukrainer, die dank der Hilfe der Menschen in Oberhavel überwiegend in Privatunterkünften wohnen können. Im Schatten und fast unbemerkt hat der Zustrom von Menschen aus anderen Teilen der Welt aber wieder zugenommen – und überwiegt jetzt auch ganz deutlich.

Was ist anders als 2015?

Der große Unterschied besteht darin: 2015/2016 hatten wir einen kurzen Peak, und jetzt haben wir eine hohe, stetige Zuwanderung von Menschen, die hier ankommen und von uns untergebracht werden müssen. Unsere Kapazitäten sind schlicht begrenzt – und das will ich ganz bewusst nicht nur auf die Unterbringung beschränken, sondern das gilt auch für Kindergärten, Schulen und Wohnungen. Das beschreibt aus kommunaler Sicht das Dilemma, in dem wir stecken – dass wir mit unserer sozialen Infrastruktur an Grenzen kommen, die es uns absehbar nicht mehr ermöglichen, Leute menschenwürdig unterzubringen und ihnen das Hiersein zu erleichtern. Wir haben rund 400 anerkannte Asylbewerber, die noch länger als nötig in Gemeinschaftsunterkünften bleiben müssen, weil wir keinen Wohnraum haben. Das ist auch ein Zeichen dafür, wie prekär die Lage ist, obwohl das Aufnahmesoll für dieses Jahr von 2400 auf 1800 reduziert worden ist.

Was unternimmt der Landkreis dagegen?

Wir haben in den vergangenen Jahren versucht, wo immer es geht, Unterkünfte zu bauen. Es wurden in Lehnitz Container errichtet und in der Heinrich-Byk-Straße Containeranlagen aufgestellt. Wir versuchen, in Marwitz Wohnungen zu bauen. Wir haben Kommunen wie Oranienburg und Hennigsdorf, die viele Menschen aufnehmen. Ein Beispiel ist Stolpe-Süd. Aber wir kommen nicht hinterher bei den hohen Zahlen, die uns in Aussicht gestellt werden, bei Wohnungen schon gar nicht.

Dann wirkt ja der Vorschlag, in Zehdenick eine Traglufthalle einzurichten, schon wie der Griff nach dem Strohhalm, oder?

Als ich vor anderthalb Jahren angefangen habe, war die Turnhalle in Lehnitz als Notunterkunft vorbereitet. Das konnten wir zum Jahresende aufgeben, weil es zum Beispiel in der Byk-Straße neue Kapazitäten gab. Meine Prämisse war immer, Turnhallen nur als Notlösung zu beanspruchen. Diese Notlösung möchte ich wirklich gerne verhindern. Natürlich überlegt man in einer solchen Situation, was dann noch bleibt: Wir kennen die Bau- und Lieferzeiten und die begrenzten Flächenkapazitäten. Und wir haben in gewisser Weise einen Wettlauf mit der Zeit. Wenn man ernsthaft eine Unterbringung in Zelten oder Turnhallen vermeiden will, dann muss man natürlich auch solche Ideen wie die Traglufhalle entwickeln.

Zumal eine Turnhallennutzung wenig Akzeptanz fände.

Eine Traglufthalle wäre keine befriedigende Lösung. Aber wir haben auch versucht, einen Ausgleich hinzubekommen mit dem sozialen Frieden vor Ort, der allen, die kommunalpolitisch aktiv sind, auch ganz wichtig ist. Ich nehme unabhängig von der Position im politischen Spektrum wahr, dass den meisten Akteuren daran gelegen ist, die Situation zu bewältigen. Bei der AfD sehe ich das nicht. In vielen Debatten höre ich aber ganz häufig, was nicht geht. Wenn man aber in der Verantwortung ist, dann muss man Dinge ermöglichen und umsetzen.

Was ist denn in Zehdenick nun möglich?

Unabhängig von Zehdenick haben wir Ausschau gehalten: Wo haben wir selber Grundstücke und Liegenschaften als Kreis? Und wo ist eine Baugenehmigung möglich? Wenn man diese Kriterien zugrunde legt, bleibt nicht mehr viel. Das beantwortet übrigens auch die Frage, warum wir in manchen Kommunen noch keine Gemeinschaftsunterkünfte haben. Der nächste Schritt ist nun, zu fragen, gibt es kommunale Grundstücke oder gibt es Privatleute, die uns Grundstücke anbieten? Aber das sind immer sehr schwierige Verhandlungen. Und manchmal ist es schon schwierig, einen Ansprechpartner zu finden. Und wir merken: Bei den meisten Kommunen ist die Bereitschaft, uns etwas anzubieten, sehr begrenzt. Darüber habe ich mit den Bürgermeistern in unserer letzten gemeinsamen Runde gesprochen, auch kritisch gesprochen. Da finde ich den Reflex dann schade: ja gerne, aber nicht bei uns. Das ist schon bei einigen Kollegen zu spüren, die mir dann Briefe schreiben.

Und in Zehdenick?

Wir haben uns zum Beispiel angeschaut, was für Möglichkeiten der Ziegeleipark bietet – nicht nur beim Thema Traglufthalle. Natürlich würden wir die am liebsten dort hinstellen, wo uns auch die Fläche gehört und wo es auch perspektivisch Sinn macht – nicht nur zum Unterbringen von Geflüchteten, sondern auch als Turn- oder Veranstaltungshalle. Beim Thema Nachnutzung bietet sich natürlich der Ziegeleipark an. Ohnehin hatte ich das Gefühl, dass in einem großen Teil der Stadtgesellschaft das Thema Traglufthalle sehr wohl mehrheitsfähig war. Zudem gehören dem Kreis im Ziegeleipark Gebäude, die ertüchtigt werden und später vielleicht auch als touristische Unterkunft genutzt werden könnten. Wir brauchen als Landkreis eine Grundkapazität an Gemeinschaftsunterkünften, wir brauchen aber auch Wohnungen. Allerdings sind laut Gesetz die Kommunen für den sozialen Wohnungsbau zuständig. Die sind aber auch überfordert, was die Geschwindigkeit und die Finanzen betrifft. Das beschreibt das Dilemma, in dem wir uns als Kommunen insgesamt befinden.

Wie meinen Sie das?

Dass wir vor den Herausforderungen stehen, die die Entscheidungen mit sich bringen, die auf Bundesebene getroffen werden. Also der Bund entscheidet, wie viele Menschen hierherkommen und verteilt sie auf die Länder. Die wiederum stehen vor der Herausforderung, Erstaufnahmekapazitäten zu schaffen, die Erfassung zu machen und die Menschen dann in die Kommunen zu verteilen. Die Länder haben über Bundesrat und Ministerpräsidentenkonferenzen noch ein gewisses Mitspracherecht. Aber ich glaube ich spreche für viele Kommunen, die nicht das Gefühl haben, dass ihre Stimme gehört wird. Diese Rufe, wonach die Kommunen jetzt wirklich an der Kapazitätsgrenze sind, werden jetzt lauter und sie werden langsam wahrgenommen. Nach meiner Beobachtung hat der brandenburgische Ministerpräsident die Zeichen schon länger erkannt und auf Landesebene darauf hingewirkt. Auf Bundesebene habe ich leider nicht den Eindruck.

Obergrenze, Aufnahmegrenze, Belastungsgrenze, welcher Begriff ist Ihnen denn am genehmsten?

Es geht nicht darum, was mir genehm ist. Es geht darum, dass wir gesamtgesellschaftlich definieren: Wie groß ist unsere Integrationskraft und unsere Integrationsfähigkeit? Und da ist mir wichtig, dass man da eine ehrliche politische und gesellschaftliche Debatte führt. Und das ist meines Erachtens gar nicht so schwer, wenn man sich unsere Infrastruktur vor Augen führt: Wohnungen, Kindergarten- und Schulplätze, Ärzteausstattung, Zahl der Sprachlehrer und Sozialarbeiter. Diese Kapazitäten zusammengenommen, sind alle begrenzt. In einer ehrlichen Debatte kommt man automatisch zu der Erkenntnis, wie groß unsere Leistungsfähigkeit ist. Ich möchte nicht, dass wir mit der Leistungsfähigkeit experimentieren, denn wir reden immer noch von Menschen, die davon betroffen sind. Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, aber auch die, die bereits lange hier beheimatet sind. Es geht also darum, wie stark unsere Leistungskraft ist. Es ist Aufgabe von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, darüber zu debattieren und festzustellen: Das können wir leisten. Das erwarten die Menschen auch. Ich nehme bei vielen eine gewisse Ratlosigkeit wahr, weil man kein Szenario hat, auf das man sich einstellen kann. Ich habe die Bundestagsdebatte zur Asylproblematik verfolgt. Für mich als kommunal Verantwortlichen war nicht ein Lösungsansatz dabei.

Der Umfragewert der AfD ist auf über 30 Prozent geklettert, da könnten viele ins Grübeln geraten. Wie sehen Sie das?

Ich mache das nicht an Umfragewerten fest, sondern an dem, was ich selber wahrnehme. Nehmen wir unsere Bürgermeister, alles vernünftige Leute. Die signalisieren mir: In bestimmten Bereichen geht’s nicht mehr. Ich sehe die Stimmung, wenn wir über Gemeinschaftsunterkünfte reden. Ich bekomme Mails und bin viel im Landkreis unterwegs. Da spiegeln mir die Leute schon ehrlich wider, welche Sorgen sie haben. Das nehme ich auf und natürlich nehmen wir wahr, wie erschrocken die Menschen in Zehdenick sind, dass wir jetzt an die Turnhalle denken. Daraus resultieren ja Ideen wie eine Traglufthalle. Ich erlebe den Austausch mit den Landräten, die alle die gleichen Probleme haben. Ich glaube schon, dass wir uns um viele Entscheidungen und Debatten in den letzten Jahren vielleicht auch gedrückt haben. Aber echte Lösungen kann ich bei der AfD nicht erkennen. Die Probleme sind viel zu komplex als dass es einfache Lösungen geben könnte, wie propagiert wird.

Warum setzen Sie sich so vehement gegen Turnhallenlösungen ein?

Weil es aus verschiedenen Gründen eine der schlechtesten ist und weil sie einen tiefen Einschnitt in die sozialen Abläufe vor Ort darstellt, wobei ein Ende kaum absehbar ist. Die Menschen brauchen aber Perspektiven. Die kann ich bei der momentanen Situation aber ehrlicherweise derzeit nicht geben. Ich finde wichtig, dass man einfach mal konstatiert: Wenn man solche Lösungen findet, dann produziert man Unzufriedenheit. Das ist eine nüchterne und politische Feststellung. Die Stimmung droht nicht nur zu kippen, sie kippt gerade. Ich fühle mich bestätigt durch die Hilferufe von Ministerpräsidenten und unzähligen Bürgermeistern. Wir dürfen an dieser Stelle nicht die Vernünftigen in die Arme der Unvernünftigen treiben. Und ja: Unsere Herzen sind weit, unsere Möglichkeiten sind aber begrenzt, das kann ich nur unterschreiben. Das ist eine nüchterne Bestandsaufnahme – und das muss man doch miteinander besprechen können.

Der Landkreis Oberhavel veröffentlicht das Interview mit freundlicher Genehmigung der MAZ. Das Interview finden Sie auch auf www.maz-online.de.